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Blick in die Geschichte Nr. 143

vom 21. Juni 2024

Der "Schwule Frühling" und das Ende des selbstverwalteten Jugendzentrums Werkstatt 68

Verbot des ersten Schwulen Filmfestes in Karlsruhe

von Annika Stehle

 

Bereits zum 31. Mal findet diesen Herbst in Karlsruhe das Queere Film Festival "Pride Pictures" statt. Längst hat sich das Filmfest zu einem festen und beliebten Bestandteil der Karlsruher Kulturlandschaft entwickelt. So konnten die Veranstalter bei der letztjährigen Jubiläumsausgabe über 2.400 Besucher*innen verzeichnen.

Unter ganz anderen Vorzeichen stand hingegen das erste Schwule Filmfest in Karlsruhe. Es wurde initiiert von der Gruppe "Schwuler Frühling", einem losen Zusammenschluss von Personen, die sich seit Anfang 1978 für die gesellschaftliche Anerkennung von Homosexualität einsetzten. Die Treffen sollten aber auch ein "Ort zum Spaß haben" sein, an dem man sich in vertrauensvoller Atmosphäre selbsterfahren und selbstverwirklichen konnte. Die Gruppe traf sich regelmäßig im Alten Mühlburger Bahnhof in der Fliederstraße 1, den Räumlichkeiten der Werkstatt 68. Die Werkstatt 68 war ein aus der 68er-Bewegung hervorgegangener Jugendclub, dessen Mitglieder zunächst kulturelle Veranstaltungen in den Bereichen Folk, Jazz, Literatur und Film organisierten. Ihre zunehmende Politisierung führte in den Folgejahren immer wieder zu Konflikten mit der Stadtverwaltung sowie dem Stadtjugendausschuss. Seit Januar 1975 war die Werkstatt 68, die sich inzwischen als Jugendzentrum in Selbstverwaltung verstand, im Alten Mühlburger Bahnhof beheimatet. Trotz Bedenken der Anwohner*innen über die "langhaarige[n] Jugendliche[n]" stellte die Stadt der Gruppe das Gebäude zur Verfügung, allerdings unter der Vorgabe, dass diese dort offene Jugendarbeit betreiben solle.

Veranstaltungsflyer Schwules Filmfest mit Unterstreichungen der Karlsruher Stadtverwaltung, 1978

Eben diese Vorgabe führte einige Jahre später zum Verbot des ersten Schwulen Filmfestes in Karlsruhe. Über ihr neu ins Leben gerufene Mitteilungsblatt "Karlsruher Schwulen Info" kündigte die Gruppe "Schwuler Frühling" 1978 an, ein Schwules Filmfest im Alten Mühlburger Bahnhof veranstalten zu wollen. Auf dem für den 13. Oktober 1978 terminierten Fest sollte der Film "Rosa Winkel? Das ist doch schon lange vorbei…" gezeigt werden, der die Verfolgung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus sowie ihre weiter bestehende Diskriminierung in den folgenden Jahrzehnten thematisiert. Darüber hinaus geboten werde "schwule Literatur, schwule Lieder, Musik, Tanz, Trinken, Essen…und alles was uns Spaß macht". Obwohl als Schwules Film Fest deklariert, richtete sich das Event laut Veranstaltern explizit nicht nur an homosexuelle Menschen.

Doch zwei Tage vor dem geplanten Fest erhielt die Werkstatt 68 Post vom Vorsitzenden des Stadtjugendausschusses: Dessen Arbeitsausschuss habe einstimmig beschlossen, dem Jugendzentrum "aufgrund seiner grundsätzlichen pädagogischen Verantwortung die Durchführung des Schwulen-Film-Festes" zu verbieten. Ferner sei es der Werkstatt 68 untersagt, die Räumlichkeiten im Alten Mühlburger Bahnhof weiterhin "der Schwulengruppe Karlsruhe oder ähnlichen Gruppen […] zur Verfügung zu stellen". Ein Zuwiderhandeln gegen dieses Verbot habe die fristlose Kündigung des Mietvertrages zur Folge. Die Mitglieder der Werkstatt 68 reagierten unmittelbar und versuchten, das Verbot des Filmfestes noch abzuwenden: Man weise das Verbot als unerlaubte Einmischung in Angelegenheiten der Werkstatt 68 zurück, hieß es in ihrem Antwortschreiben vom 12. Oktober 1978. Doch der Stadtjugendausschuss blieb bei seinem Standpunkt. Solche "jugendgefährdenden Treffen und Veranstaltungen" dürften nicht in einem Jugendtreff stattfinden.

Das Verbot des Filmfestes rief in der Karlsruher Öffentlichkeit, aber auch überregional viel Kritik hervor. Zwar gab es auch einzelne Stimmen, die die Entscheidung der Stadt befürworteten - so z. B. ein Anwohner, der es gegenüber dem Hauptamt begrüßte, dass in seinem Viertel "keine Propaganda für diese abartigen Menschen" gemacht werden dürfe - doch waren die öffentlichen Äußerungen mehrheitlich kritisch. Die Gruppe "Schwuler Frühling" verurteilte das Vorgehen der Stadt in einem offenen Brief an Oberbürgermeister Otto Dullenkopf scharf. Indem man das Verbot mit einem der ältesten Vorurteile gegenüber Schwulen rechtfertige, nämlich dass diese Kinder und Jugendliche verführten, trage man zur Unterdrückung von Homosexuellen und der gesellschaftlichen Verankerung von Schwulenfeindlichkeit bei. Ähnlich äußerten sich auch Dr. Christiane Schmerl, Peter Recht und Detlef Stoffel, die drei Regisseur*innen des Films "Rosa Winkel?": Die Argumentation der Stadt Karlsruhe basiere "auf Vorstellungen jener Zeit, über die genau unser Dokumentationsfilm aufklären und vor allem warnen will". Die Vollversammlung der südwestdeutschen Schwulengruppen kritisierte das Verbot als Eingriff in die Persönlichkeitsentfaltung von Jugendlichen.

Ungeachtet des Verbots fand das Schwule Filmfest am 13. Oktober 1978 wie geplant statt. Wie ein Artikel in den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) einige Tage später berichtete, sei die Veranstaltung weit weniger spektakulär verlaufen als von einigen befürchtet: "Mehr als 200 junge Leute - die wenigsten waren homosexuell - verbrachten einen fröhlichen Abend, soweit das in der brechend vollen Werkstatt 68 möglich war. Minderjährige waren nicht anwesend". Nichtsdestotrotz nahm der Stadtjugendausschuss die Zuwiderhandlung wie angekündigt zum Anlass, den Mietvertrag über den Alten Mühlburger Bahnhof aufzulösen.

Gebäudeansicht Alter Mühlburger Bahnhof mit Aufschrift "Werkstatt 68", 1975

Auch diese Entscheidung wurde von der Öffentlichkeit genau verfolgt und kontrovers diskutiert. Während sich der Bürgerverein Mühlburg erleichtert zeigte, dass das "Treiben" und das damit verbundene ruhestörende Verhalten im Alten Mühlburger Bahnhof endlich unterbunden worden sei, vermutete der Kreisverband der Deutschen Jungdemokraten Karlsruhe Stadt, das Schwule Filmfest habe der Stadtverwaltung nur als gern ergriffener Vorwand gedient, die konfliktreiche Beziehung zur Werkstatt 68 endlich beenden zu können. Ihrer Meinung nach tue sich die Stadt aber keinen Gefallen damit, das Engagement der Werkstatt 68 zu ersticken. Zwar legten die Mitglieder der Werkstatt 68 erneut Einspruch gegen die Entscheidung des Stadtjugendausschusses ein, räumten angesichts eines drohenden Rechtsstreits mit der Stadt das Gelände aber schließlich doch. Laut eines Berichts der Sozial- und Jugendbehörde hinterließen sie die Räumlichkeiten in einem "katastrophalen und total verwahrlosten Zustand".

Der Auszug aus der Fliederstraße 1 bedeutete das Ende des selbstverwalteten Jugendzentrums Werkstatt 68. Die Aktivitäten des Vereins schliefen daraufhin weitgehend ein. Im April 1981 verkündete ihr Vorsitzender Ronald Herb, man befinde sich in einem "Umstrukturierungsprozess". Auf einer Vollversammlung am 15. November 1983 wurde schließlich die Auflösung des Vereins beschlossen. In gewisser Weise bestand die Werkstatt 68 dennoch fort, denn aus ihr heraus entwickelten sich Kulturvereine, die bis heute eine bedeutende Rolle im Karlsruher Kulturleben spielen: die Kinemathek und das Tollhaus.

Die Gruppe "Schwuler Frühling" ließ sich vom Verbot des ersten Schwulen Filmfestes nicht beirren und knüpfte in den folgenden Jahren mit weiteren Veranstaltungen daran an. So kündigten seine Mitglieder in der zweiten Ausgabe der "Karlsruher Schwulen Info", die im Januar 1979 erschien, unter anderem ein Schwules Frühlingsfest mit Travestie Show in der Schauburg an. Das dritte Karlsruher Schwulenfest, das am 19. Oktober 1979 ebenfalls in der Schauburg stattfand, erlebte laut einer Besucherin einen so großen Besucher*innenansturm, dass sich vor dem Eingang eine "dicke[…] menschentraube" bildete. Danach verliert sich die Spur des "Schwulen Frühlings", doch ihre Idee eines queeren Karlsruher Filmfestes besteht bis heute fort.

Annika Stehle, Archivarin, Stadtarchiv Karlsruhe

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