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vom 19. September 2014
von Ferdinand Leikam
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 hatte weitreichende Folgen für die Bewohner der Stadt Karlsruhe. Auch und gerade Kinder und Jugendliche waren vom Krieg und den Kriegsfolgen unmittelbar betroffen. An vielen Schulen wurde der Unterricht reduziert, da das Schulgebäude als Kaserne oder Lazarett zweckentfremdet wurde oder weil Lehrer Kriegsdienst leisten mussten. Zudem entfiel in den Wintermonaten immer wieder der Unterricht, wenn kein Heizmaterial zur Verfügung stand. Auch den zunehmenden Mangel an Lebensmitteln bekamen Kinder und Jugendliche zu spüren. Immer mehr Schülerinnen und Schüler waren auf das kostenlose Mittagessen im Rahmen der Schülerspeisung angewiesen. Das Anstehen für Lebensmittel gehörte bald zum Alltag vieler Kinder und Jugendlicher. Zudem mussten Schülerinnen und Schüler oft Bucheckern und andere Naturerzeugnisse sammeln, die sich zu Lebensmitteln weiterverarbeiten ließen.
Der Arbeitskräftemangel, der aus der Einberufung zahlreicher Männer resultierte, hatte zur Folge, dass immer häufiger Jugendliche zu Hilfsarbeiten eingesetzt wurden. Im Rahmen des landwirtschaftlichen Hilfsdienstes wurden männliche Jugendliche im Sommer 1917 erstmals systematisch zur Arbeit in der Landwirtschaft herangezogen. Zur Vorbereitung junger Männer auf ihren späteren Einsatz an der Front war bereits kurz nach Kriegsbeginn die Jugendwehr entstanden. Auch unter den Luftangriffen hatten Kinder und Jugendliche zu leiden. Als frontnahe Stadt wurde Karlsruhe 14 Mal aus der Luft angegriffen, dabei starben insgesamt 168 Menschen. Am 22. Juni 1916 fielen dem schwersten Angriff 120 Menschen zum Opfer, darunter 71 Kinder unter 15 Jahren.
Trotz der weitreichenden Folgen, die der Krieg für sie hatte, sind nur sehr wenige direkte Aussagen von Kindern und Jugendlichen aus den Kriegsjahren dokumentiert. Somit lässt sich zwar gut nachvollziehen, wie die Stadtverwaltung auf die Herausforderungen reagierte, die der Krieg mit sich brachte. Doch die Frage, wie Kinder und Jugendliche in Karlsruhe den Krieg und die Kriegsfolgen wahrnahmen, lässt sich nur schwer beantworten. Umso wertvoller ist der Nachlass von Hans Müller, der dem Stadtarchiv Karlsruhe im Jahr 2013 zuging. Hans Müller wurde am 20. November 1901 geboren, bei Kriegsausbruch war er also zwölf Jahre alt. Die Sammlung umfasst Tagebücher, Fotos sowie Aquarelle, Zeichnungen und Skizzen, die Hans Müller etwa zwischen 1916 und 1918 angefertigt hat. Besonders die Tagebücher, die die Jahre 1917 und 1918 umfassen, eröffnen vielfältige Einblicke in das Leben eines Karlsruher Jugendlichen während des Kriegs.
Mit seinen Eltern, dem Architekturprofessor Johannes Müller und dessen Frau Karoline, und seinen jüngeren Brüdern Erwin und Alfred wohnte Hans Müller in der Bürklinstraße in der Südweststadt. Während des Kriegs besuchte er die Goetheschule. Sein Vater leistete Militärdienst und war daher abwesend, was Hans Müller in seinen Tagebüchern allerdings nur am Rande erwähnte. Intensiv befasste er sich hingegen mit den Fliegerangriffen auf die Stadt, deren Ablauf und Folgen er genau beschrieb und oft auch fotografisch festhielt. So zum Beispiel am 10. Februar 1917: "Morgens um ¾2 Uhr weckte mich Mutter, und ich hörte nun heftiges Abwehrschießen. ... Das Schießen dauerte bis ¼3 Uhr. Gegen ½4 Uhr war Schluß. Ich trat nun einen Rundgang an, konnte aber nichts entdecken. Am Morgen schaute ich mir die Schäden an. Es war nicht viel 'futsch'. Am Güterbahnhof einige Verwundete, von denen einer (Vater von 8 kleinen Kindern) starb. Mittags ging ich in die Stadt. Abends gemalt. Von ¾10 - ¾11 war wieder Alarm." Auch der Schulunterricht wurde mehrmals von Fliegeralarm unterbrochen, etwa am 30. Oktober 1917: "Morgens (während der Schulzeit) um 11:40 Uhr Sirenenalarm, 10 Minuten darauf Böller. Wir gingen in den Schulkeller (ziemlich langweilig, miserable Luft) - Um 12:15 Schlußzeichen." Im Laufe des Jahres 1918 lässt sich bei Hans Müller eine gewisse Abstumpfung erkennen, so vermerkte er im August 1918 nach einem Alarm lediglich: "Nachts der übliche Fliegeralarm."
Hans Müller war Mitglied der Jugendwehr, allerdings ohne den Aktivitäten großes Interesse entgegenzubringen, was die sehr knappen Erwähnungen in den Tagebüchern nahelegen. Lediglich auf Nachtübungen oder Ausmärsche ging er ausführlicher ein und hielt sie auch fotografisch fest. Ausführlich hingegen beschrieb Hans Müller den landwirtschaftlichen Hilfsdienst, den er im Sommer 1917 in Kürnbach absolvierte. Als er am 24. Juni zum ersten Mal nach Kürnbach fuhr, um dort seinen für die Sommerferien geplanten Einsatz zu regeln, beeindruckte ihn insbesondere das reichhaltige Essen auf dem Land: "Wir gingen zum Pfarrer, dann zum Bürgermeister, wo wir zum Essen eingeladen wurden (Suppe, Braten, Friedensspatzen [wahrscheinlich Eierspätzle, F. L.], ,Wackelpeter’, Erdbeeren, Gläschen Wein). Das hat geschmeckt." Auch das Abendessen mit Speck, Bratkartoffeln mit Wurst und Kirschen beeindruckte Hans Müller und veranlasste ihn zu der Feststellung: "So gut ist mirs schon lange nicht mehr gegangen."
Im Juli 1917 leistete Hans Müller erstmals landwirtschaftlichen Hilfsdienst in Kürnbach, über den er eingehend und positiv in seinem Tagebuch berichtete. Nach der Beendigung des Diensts kehrte er nach Karlsruhe zurück, im Gepäck "30 Pfund Bohnen, 10 Pfund Geleeäpfel, Brot, 3 Mark Lohn". Bereits im August fuhr er erneut zum Hilfsdienst nach Kürnbach. Die dabei geknüpften Kontakte nutzte er auch in der Folgezeit. Mehrmals fuhr er nach Kürnbach, um sich Lebensmittel zu besorgen. Dies war durchaus geboten, denn auch für die Familie Müller war die Lebensmittelversorgung problematisch. Das Anstehen in der Hoffnung auf Lebensmittel gehörte ebenfalls zu den Erfahrungen von Hans Müller. So schrieb er am 31. Oktober 1917: "Mittags Kraut geholt (50 Pfund) böse Steherei. 1000de von Menschen mußten unverrichteter Dinge abziehen".
Zu den Hobbys von Hans Müller zählte neben dem Fotografieren das Malen und Zeichnen, wovon zahlreiche Bilder und Skizzen zeugen. In seinen Gemälden und Zeichnungen verarbeitete Hans Müller offensichtlich auch Berichte und Erzählungen von der Front. Viele seiner Werke zeigen Kampfszenen, in denen deutsche Truppen angreifende französische Soldaten zurückdrängen. Ein weiteres häufiges Motiv sind Flugzeuge. Dies verweist auf ein weiteres Hobby von Hans Müller, die Fliegerei. Regelmäßig ging er auf den Exerzierplatz, wo die deutschen Kriegsflugzeuge zur Luftabwehr stationiert waren, und fotografierte oder zeichnete die dort startenden und landenden Maschinen. Am 13. November 1918 ging für Hans Müller ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung: Zum ersten Mal durfte er in einer Maschine mitfliegen. "Voll seligsten Glücksgefühls stieg ich in das Flugzeug, meine jahrelange Sehnsucht hatte sich verwirklicht. Unbeschreiblich schön war der Start. … Immer kleiner wurden die unten Stehenden, kaum mehr konnte ich sie winken sehen. … Das ganze kam mir vor, wie ein wunderschöner Traum. Nie werde ich dieses schöne Erlebnis vergessen."
Ein anderes einprägsames Erlebnis lag zu diesem Zeitpunkt erst wenige Tage zurück. Am 9. November 1918 wurde Hans Müller Augenzeuge der Revolution. In seinem Tagebuch schilderte er die Ereignisse in Karlsruhe wie folgt: "Große Bewegung verursachte die Nachricht vom Thronverzicht des Kaisers. Um ½6 gingen wir zu dem mit M. G. besetzten Bahnhof. Dort bildete sich ein[e] Versammlung. Kurze Ansprache[n] wurden gehalten, dann bildete sich ein Zug nach dem Rathaus. Auch dort wurden Ansprachen gehalten. Liebknecht, dieser Hallunke, wurde verherrlicht und man ließ die Republik hochleben. Ein Arbeiter- und Soldatenrat wurde gebildet. Der Zug ging dann nach der Grenadierkaserne, wo die Wache sich bald ergab. Nur wenige Schüsse fielen (10h). Dann wurde auch die Artilleriekaserne zur Übergabe gezwungen." Dass Hans Müller dem politischen Umbruch mit Skepsis gegenüberstand, machen folgende Zeilen von gleichen Tag deutlich: "Was soll nun ich zu der Bewegung sagen? Daß wir demokratisch regiert werden müssen, glaube ich sicher. Aber warum muß jetzt der Umsturz vollzogen werden, jetzt, wo noch nicht einmal der Waffenstillstand abgeschlossen ist. Das ist Verrat am Vaterland (nach meiner Ansicht)."
Zu Veränderungen kam es im November 1918 auch im Privatleben von Hans Müller. Marie, genannt Mariele, und er wurden ein Paar. Schon in den Monaten zuvor hatte er Marie immer wieder in seinem Tagebuch erwähnt. Aus Freundschaft wurde schließlich Liebe. Am 30. November 1918 notierte Hans Müller: "Auf dem Heimweg sagte mir Mariele, daß sie mich liebt. Hurra." Die Beziehung mit Mariele macht deutlich, dass der Krieg das Leben von Hans Müller nicht gänzlich bestimmte. Immer wieder gelang es ihm, sich Freiräume zu schaffen. Zu diesen zählen auch Streiche, die er ebenfalls in seinem Tagebuch dokumentierte. Am 26. November 1917 etwa versiegelte er mit drei Klassenkameraden einem Lehrer die Schlösser von Haus- und Gartentüre mit Gips. Die Tat wurde aufgedeckt, und Hans Müller wurde mit zwölf Stunden Karzer und der Androhung der Entlassung bestraft.
Somit lässt sich abschließend feststellen, dass die Tagebücher von Hans Müller vielfältige und direkte Einblicke in das Leben eines Jugendlichen in Karlsruhe während des Ersten Weltkriegs bieten. Sie lassen erkennen, wie dieser Jugendliche auf die Luftangriffe und den Nahrungsmittelmangel reagierte und welches Interesse er der Jugendwehr sowie dem landwirtschaftlichen Hilfsdienst entgegenbrachte. Vor allem aber führen sie vor Augen, wie weitreichend die Folgen des Kriegs auch für Jugendliche waren.
Ausführlich zum Thema
Ferdinand Leikam: Kindheit und Jugend im Krieg, in: Ernst Otto Bräunche und Volker Steck (Hrsg.): Der Krieg daheim. Karlsruhe 1914-1918, Karlsruhe 2014, S. 199-225.